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Nettelbeckstraße

Content note: Kolonialismus, sexualisierte Gewalt

 

Eintrag zur Nettelbeckstraße im Kieler Straßenlexikon von Hans - G. Hilscher (wörtlich übernommen): 

Nettelbeckstraße (Blücherplatz)

 

1907 

Name durch städt. Koll. festgelegt

StC.12.11.1907/11(StA. 7004. 3)

Blücherstraße - Holtenauer Straße

Joachim Nettelbeck (20.09.1738-19.01.1824) Bürger und Verteidiger der Stadt Kolberg gegen die Franzosen

 

Joachim Nettelbeck wird als Kriegsheld mit unermüdlichem Durchhaltewillen beschrieben. Eisern verteidigte er 1807 die Stadt Kolberg gegen Napoleon und drohte all jenen, die sich dieser Verteidigung entzogen mit Tod durch seinen Dolch. Seinen Kampfgeist nutzen u.a. die Nationalsozialisten 1945 für ihre Propagandazwecke in ihrem Durchhaltefilm „Kolberg“. 

Nicht nur, dass er von den Nationalsozialisten als Volksheld gefeiert wurde, auch wird im Kieler Straßenlexikon verschwiegen, dass sich Nettelbeck sehr engagiert dafür einsetzte, dass Deutschland Kolonien in Afrika gründete. Als Obersteuermann war er mit niederländischen Versklavungsschiffen unterwegs und maßgeblich an der Organisation des Sklavenhandels beteiligt. Aus seiner Autobiografie ist zudem zu entnehmen, dass er sexualisierte Gewalt gegenüber den versklavten Frauen ausübte. 

Aus diesen Gründen setzt sich die Initiative Schwarze Menschen Deutschland und Decolonize Erfurt dafür ein, dass das in Erfurt befindliche Nettelbeckufer umbenannt wird. Als Gegenvorschlag wird der schwarze Deutsche Gert Schramm genannt, der 1928 am Nettelbeckufer geboren wurde und auf Grund seiner Hautfarbe in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurde. Er überlebte dieses und setzte sich bis zu seinem Tod 2016 gegen rechte Gewalt ein und wurde dafür 2014 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 

Ob das Ufer in Erfurt umbenannt wird, ist noch nicht geklärt. Die Initiative hat aber bereits dazu geführt, dass die Nettelbeckstraße in Dortmund und der Nettelbeckplatz in Berlin umbenannt wurden. 

 

Neben der Nettelbeckstraße, gibt es noch die Wissmannstraße, die Lüderitzstraße, die Woermannstraße, die Von-Der-Groeben-Straße und die Nachtigalstraße in Kiel, die einen kolonialen Bezug haben. Es gibt bereits Bestrebungen, diese Straßen umzubenennen oder zumindest um eine Einordnung und Aufklärung zu ergänzen. Zum Beispiel setzen sich Bündnis 90/die Grünen in Kiel dafür ein, dass obige Straßen umbenannt werden. Im Januar 2022 wurde zudem in der Sitzung des Ortsbeirates Ravensberg/Brunswik/Düsternbrook der Antrag formuliert, die im Stadtteil Düsternbrook befindliche Nettelbeckstraße vom Kulturausschuss prüfen zu lassen und um eine Informationstafel, die über Nettelbeck aufklärt, zu ergänzen. Am 25.01.2022 wurde bei der Sitzung des Kulturausschusses über diesen Antrag abgestimmt, mit dem Ergebnis, dass der Antrag zunächst zurückgestellt werde. Die Begründung: Das Thema würde bereits in der Kommission für Historische Stadtmarkierungen diskutiert und eine Vorlage erarbeitet. Diese Vorlage setzt jedoch den Schwerpunkt auf die Entkolonialisierung von Straßennamen in Neumühlen-Dietrichsdorf. Die Vorlage soll im Februar in den Kulturausschuss eingebracht werden.

 

Die schwierige Frage bei solchen Umbenennung ist, welcher Grad der Belastung als Maßstab herangezogen werden soll. Es muss zudem berücksichtigt werden, dass Straßenumbenennungen in die Erinnerungskultur eingreifen und damit auch (kultur)geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge zerstören können. Es wird daher nicht immer eine Umbenennung und damit ein Ausradieren der Person diskutiert, sondern, wie auch im Falle Nettelbecks in Kiel, eine Ergänzung der Straßenschilder. Diese Ergänzungen dienen dazu, die Gesamtperson zu erläutern und nicht nur einige weniger Taten oder Eigenschaften sowie die Person in einen zeitlichen Kontext zu setzen.

 

Eine Ergänzung im Kieler Straßenlexikon könnte wie folgt aussehen:

 

Nettelbeckstraße (Blücherplatz)

 

1907     

Name durch städt. Koll. festgelegt

StC.12.11.1907/11(StA.    7004. 3)

Blücherstraße - Holtenauer Straße

Joachim Nettelbeck (20.09.1738-19.01.1824) Bürger und Verteidiger der Stadt Kolberg gegen die Franzosen

2022

Ergänzung durch Ratsversammlung festgelegt

StC.11.02.2022/11(StA.    7004. 3)

Joachim Nettelbeck, maßgeblich am Versklavungshandel der Niederlande beteiligt, diente auf Grund seines eisernen Durchhaltewillens den Nationalsozialisten als patriotisches Vorbild. 

 

Eine Ergänzung und Einordnung der Person ist angesichts der Tatsache, dass sich Straßennamen auf Grund ihrer Alltäglichkeit unterbewusst in unserem Gedächtnis verankern, sehr wichtig. Am Beispiel der Schillstraße wurde schon kurz erwähnt, dass sich viele Menschen gar nicht dafür interessieren, was auf den Straßenschildern steht, geschweige denn die Bezeichnung hinterfragen. Dadurch fehlt auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Personen und es findet ein Hinnehmen der Taten dieser Person statt, die nicht ehrwürdig sind.  

 

Anhand der Nettelbeckstraße zeigt sich, dass Straßen die nach Personen benannt werden, stets mit aktuellen Werten abgeglichen und ihre Funktion als kollektives Gedächtnis hinterfragt werde müssen. 

Es gibt einige Ausschlusskriterien der Stadt Kiel, wann einer Straße ihr Name entzogen werden kann: 

  • die Person widerspricht dem deutschen Grundgesetzt oder der schleswig-holsteinischen Verfassung 

  • die Person schadet dem Ansehen der Landeshauptstadt Kiel 

  • die Person verkörpert Ideologien, die auf der Ungleichheit von Menschen beruht (z.B. Nationalsozialismus, Antisemitismus, Rassismus 

  • die Person übte ideologische motivierte oder sexualisierte Gewalt gegen Menschen aus

  • ein gewandeltes Geschichtsbild oder neue Forschungsergebnisse

 

Der letzte Punkt tritt besonders bei Straßen, die in Verbindung zum Nationalsozialismus stehen, auf, da Forschungen noch immer Hinweise darauf finden, dass bestimmte Personen aktiv oder passiv (z.B. als Mitläufer) das NS-Regime unterstützen. Anhand dieser Forschungsergebnisse müssen die Benennungen der Straßen neu eingeordnet werden. 

Über Straßen mit nationalsozialistichem Bezug gibt es mittlerweile viele Forschungen und viel Literatur. Es gibt auch immer mehr Literatur und Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und ihrer Repräsentation im öffentlichen Raum. In diesem Zusammenhang entstehen auch obige Initiativen und Forderungen nach Diskussion bzgl. einer möglichen Umbenennung oder Ergänzung von Straßenschildern. 

Ginnie Bekoe schreibt über ihre Erfahrungen, wenn sie durch Hamburgs Straßen geht. Sie kritisiert, die unreflektierte Benennung der Stadt Hamburg, die noch 2005 Plätze und Terrassen in der Hafencity nach Marco Polo, Vasco da Gama und Ferdinand Magellan benannte, die durch die Benennung zu Entdeckern stilisiert würden. Diese und weitere Straßen, die unreflektiert und ohne Kontext die Namen von Sklavenhändlern, Mördern und Vergewaltigern wiedergeben, führten zu einer Retraumatisierung betroffener Menschen, so Bekoe. 


Forschungen darüber, welche Auswirkung das Ungleichgewicht von nach Männern und Frauen benannten Straßen hat, gibt es bisher nicht. Die Vermutung liegt aber nah, dass das Eindringen der mehrheitlich männlichen Straßennamen in unser Unterbewusstsein unsere Wahrnehmung beeinflusst und möglicherweise auch unsere Entscheidungen. Sehen FLINTA*-Personen nur die Leistungen von Männern, lässt sie dies möglicherweise an den eigenen Fähigkeiten zweifeln. Es fehlen ihnen inspirierende, nicht cis männliche Persönlichkeiten, die sie ermutigen, Dinge zu wagen und nach Großem zu streben. Ungeachtet aller Hürden, die ihnen das Patriarchat auferlegt.

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